Ein Plädoyer für die Stille.

Gebrauchsanweisung: Sollten Sie diesen Text lesen wollen, schalten Sie die Musik aus, stellen Sie Ihr Smartphone auf lautlos und suchen Sie sich einen ruhigen Ort. Wenn anders nicht möglich, gehen Sie auf die Toilette.

Stille wird oft mit Lebensabstinenz assoziiert. Wo nichts los ist, herrscht Stille. In der Einöde. Am Friedhof. Dabei beschränkt sich Stille nicht nur auf die Absenz von Geräuschen, sondern umfasst auch die Abwesenheit von Bewegung. So kann Stille sowohl als Geräusch- als auch Bewegungslosigkeit verstanden werden. Zwei Zustände, die im krassen Gegensatz zum Zeitgeist unserer Informations- und Mobilitätsgesellschaft stehen. Doch ist das so?

 

Die Abstumpfung der Sinne

 

Besonders im Frühling bin ich immer wieder erstaunt, wie gut wir, vor allem im urbanen Raum, Lärm ignorieren können. Da sitzen wir genüsslich beim Cappuccino, während wenige Meter neben uns der Autoverkehr ein Lärmniveau erreicht, das nachweislich gesundheitsschädlich ist. Ähnlich dem Frosch im Kochtopf, der die langsame Erhitzung des Wassers nicht bemerkt und schlussendlich verbrüht, haben wir uns schleichend an den akustischen Smog und seine Belastung gewöhnt. Als Schutzreflex dämpfen wir unsere Empfindlichkeit. Vielleicht zu stark.

 

Straßenlärm, Musik und nervtötende Werbespots berieseln uns den ganzen Tag, wobei die selbstgewählte Dauerbeschallung durch Musik meist nur ein Versuch ist, andere – schlimmere – Lärmquellen auszublenden. Wie sehr uns dieser Zustand belastet, erfahren wir nur, wenn es gelingt, sich dem Dauerfeuer für eine Weile zu entziehen. Es braucht Zeit, bis eine angenehme Entspannung den Körper durchströmt. Jedes akustische Signal ist Information, die unsere Verarbeitungskapazität fordert – wenn auch unbewusst. Stille für den Kopf ist wie Sitzen für die Beine. Sofortige Entspannung tritt ein.

 

Als passionierter Bergsteiger erlebe ich diesen Luxus regelmäßig. Ob in einer abgelegenen Hütte ohne Strom oder auf einem einsamen Gipfel, echte Stille kann man – so seltsam es klingen mag – hören. Gerade an windstillen Tagen im Winter, wenn auch in den Bergen alle Wasserfälle ruhen und wenige Tiere aktiv sind, kann man in diese besondere Atmosphäre des Nichts eintauchen. Ein magisches Gefühl.

 

Stillstand ist der Tod

 

Stille – und sofort denken viele an Stillstand, und diesen fürchten wir. Stillstand ist schlecht, steht für Rezession und Bedrohung in unserer Wettbewerbsgesellschaft. Wer still steht, wird überholt oder überrannt. Stillstand ist der Tod. Diesem Dogma einer blinden Fortschrittsgläubigkeit kann man entspannt abschwören. Es greift zu kurz. Und es ist amüsant, dass uns das Wort Fortschritt (als Gegenpol zum Stillstand) nur verspricht, uns „fort“ zu bringen – nicht jedoch wohin und warum. Dies entlarvt ihn als hektischen und ziellosen Prozess.

 

Stillstand ist gerade auf Bergtouren essentiell, denn nur im „Stillstand“ kann man seine Kameraden, das Wetter und das Terrain wahrnehmen. So wertvoll dieser physische Stillstand für die Sicherheit und Orientierung in den Bergen ist, so wichtig kann die Stille im Alltag sein. Nein – so wertvoll IST sie.

 

Ich bin überzeugt, dass auch die Cappuccino schlürfenden Menschen an der Wiener Ringstraße dies bereits spüren. Auch in den Großraumbüros sind Telefon-freie Zonen auf dem Vormarsch und der Trend zur Freizeit in der „stillen“ Natur ist weiter ungebrochen. Neben dem sportlichen Ausgleich sehnt sich unser Körper auch nach tiefer Ruhe – nach Stille, um zu regenerieren und Kraft für den Alltag zu tanken.

 

Kommen wir vermehrt mit Stille in Kontakt, erlangen wir unsere natürliche Sensibilität zurück. Die Abstumpfung verschwindet und unsere Sinne können sich erholen. Wir nehmen die Welt bewusster wahr – und das hat Auswirkungen. Lieb gewonnene Lokale verlieren schlagartig ihre Attraktivität und vielleicht muss man auch umziehen. Was man riskiert: Wohlbefinden und eine höhere Lebensqualität.

 

PS: Das muss man aber nicht lauter sagen, sondern kann es still auf sich wirken lassen.

Hannes Offenbacher

Hannes Offenbacher ist Unternehmer, Neudenker und leidenschaftlicher Bergsteiger. 2018 hat er Alpina Marina als Reisemagazin für sein Business Netzwerk Wemorrow gestartet und verantwortet die redaktionelle und gestalterische Linie des Magazins. Der Steirer lebt aufgrund der Liebe zu den Bergen, nach 8 Jahren Wien, seit 10 Jahren in Innsbruck, Tirol.

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