Ödenwinkeltal. Zeitreise zu einem schlafenden Riesen.

Eine Wanderung zur Demut. Der Gletscherweg zum Ödenwinkelkees in den Hohen Tauern.

In einem anderen Leben hätte ich Geologie studiert. Ehrlicherweise aufgrund der romantischen Vorstellung, der berufliche Alltag würde dann aus Bergsteigen und dem Suchen von Mineralien bestehen. Wohl auch, weil es eine kindlich geprägte Leidenschaft ist, die ihre Wurzeln in den Wanderungen mit meiner Mutter hat, wo sie meinen Bruder und mich von der hochalpinen Fauna begeistern versuchte.

Wir aber hatten bei unserer Schatzsuche einen klaren Fokus: Glitzernde Steine. Heute faszinieren mich die Steine – wie wohl viele Bergsteiger – in ihrem größeren Zusammenhang: ihrer geotektonischen Entstehung. Gerade in diesem Zusammenhang ist der Salzburger Pinzgau ein großartiger Ort, ist er doch Grenzlinie zwischen Kitzbüheler Grasberge und den höchsten Gipfeln Österreichs – den Hohen Tauern.

Unser kleiner Abenteuerplan: Kein Gipfel, sondern eine entspannte Wanderung in die Vergangenheit – sowohl in jene meiner Kindheit, als auch eine in jene der alpinen Geologie. Mit dem Renault Grand Scenic geht es zum Basislager Rudolfshütte. Das Ziel dort ist eines der entlegensten Gletschertälern Österreichs, dem Ödenwinkel, an dessen Wangen sich der 3.500 Meter hohe Johannisberg in einer steilen Nordwand nach oben türmt. Am Fuße dieser eindrucksvollen Wand liegt der Ödenwinkelkees, der seit Jahrhunderten Tonnen von Gestein ins Tal schaufelt.

Das Wetter verspricht – sagen wir es einmal so – Spannung. Es ist Juli und die Prognose sagt Schneefall ab 2.500 Meter Höhe. Wunderbar. Schönwetter kann jeder und hat meist wenig Erinnerungskontrast. Schon die Fahrt durch die nebeligen Flanken der Grantspitzengruppe ist traumhaft schön. Die wasserreiche Region zieht einem mit ihren Wasserfällen in einen meditativen Bann, wie skandinavische Fjorde. 

Wie schon bei unserem Besuch im Winter entschleunigen wir uns am Abend an der Hotelbar. Der einzigen Bar. Die Rudolfshütte liegt über dem aufgestauten Weißsee ähnlich einsam, wie ein tibetisches Kloster. Wir rätseln, ob es vielleicht auch die höchste Bar Österreichs ist und wie wohl mehrere hunderte Jahre altes Gletschereis in unserem Veneziano schmecken würde. Am Fenster tanzen Schneeflocken und wir hoffen, es liegt am Alkohol. Beim Frühstück die Klarheit, wir hatten es nicht übertrieben. 20cm Neuschnee auf 3000m.

Ein Grund mehr, diesmal keine Gipfel zu stürmen. Als die Sonne durch den Nebel blinzelt brechen wir auf. Durch den Niederschlag der letzten Nacht ist die Landschaft vollgesogen mit Wasser wie ein Schwamm, der nichts mehr halten kann. Die Grenzen zwischen Pfad und Bächlein sind im wahrsten Sinne des Wortes fließend. Doch es ist wunderbar. Man muss sich diesen Wasserreichtum vor Augen führen, diese globale Luxus Stellung, welche die Alpen hier einnehmen. Und wir mittendrin.

Dankbarkeit und Genügsamkeit. Demut. Das alles kann man lernen, wenn man im Angesicht der über 1000 Meter hohen, teil vereisten Nordwand den Pfad zum Gletscher absteigt, der 300 Meter tiefer liegt als unser Ausgangspunkt. Wir haben Zeit und genießen die stoische Ruhe in uns. Haben uns längst dem Wettergott ergeben, der entscheiden wird, ob wir heute noch nass werden. Kontrolle abgeben. Loslassen. Sich verbunden fühlen. Kurz vor dem Gletscher endet der befestigte Weg. Ab hier ist alles in Bewegung. Der Gletscher ist bedeckt mit einer dichten Schicht von Geröll, welches mit unfassbarer Wucht von den Nordwänden auf seinen eisigen Panzer stürzt. Er trägt es mit Fassung.

Das Gletschertor wirkt wie das Maul eines blauen Wales, aus dem ohne Ende Schmelzwasser schießt, um sich als tosender Gletscherbach seinen Weg durch das Tal zu graben. An seinen Rändern, wo der Gletscher sich an den Fels des Tales presst, entdecken wir eine Gletscherhöhle und wir können es uns nicht nehmen lassen, etwas für den spätere Abend an der Bar mitzunehmen. Beim Versuch dem Gletscher ein Stück zu entreißen, erahnt man unter welchem Druck sich dieser schimmernde Edelstoff gebildet hat. Wir nehmen die Opfergabe nach 15 Minuten demütig an und wandern den Gletscherbach entlang talauswärts.

Während das Tal von oben tot und grau aussieht, zeigt es einem erst mitten drinnen seine Schönheit. Pionierpflanzen und verschiedene Blumen haben sich zwischen den Steinen ihren Platz erkämpft und versuchen sich gegenseitig mit bezaubernden Arrangements zu übertrumpfen. Es ist der Kontrast zwischen Steinen und Fauna, zwischen Kargheit und Fülle, der ein wunderschönes Spannungsfeld erzeugt. Es ist schwer, seinen Blick vom Boden loszureißen. Auch: Weil ich nach 25 Jahren noch immer nach den glitzernden Steinen Ausschau halte. Man kann ja nie wissen.

Als großes Finale entschließen wir uns noch vor der Brücke den eisigen Bach zu durchqueren. Ok… ich fand es wäre eine wichtige Erfahrung für meine Freunde und behaupte wir haben keine andere Wahl. Abenteuer passieren eben nur außerhalb der Komfortzone. Das Böse: Während der Durchquerung ist man hochkonzentriert, um nicht umgerissen zu werden. Erst wenn man es an das andere Ufer geschafft hat, setzt der Schmerz des kalten Wassers ein. Man spürt sich. Und wir werden uns erinnern, an diese besondere Wanderung zwischen Fels, Eis und Natur in einem einzigartigen Tal.

Am Abend staunen die flachländischen Touristen nicht schlecht, als wir unser Stück Gletscher an der Bar auspacken und mit dem Hammer zerkleinern. Das Eis hat eine einzigartige Lichtbrechung, funkelt wie ein Diamant. Es ist reinstes Wasser aus einer Zeit vor uns allen. Es wird der demütigste Drink aller Zeiten.

 

→ Text: Hannes Offenbacher 

→ Fotos: Malcolm Kessler    

→ Basecamp: Rudolfshütte

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